Aktenzeichen: 38/11
Datum: 20.09.2011
Vollständiger Urteilstext: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001085052
VerfGH Berlin: Verfassungsbeschwerde: Keine Verletzung des Elternrechts (Art 12 Abs 3 Verf BE) durch Entzug von wesentlichen Teilbereichen des alleinigen Sorgerechts der Kindesmutter und Übertragung der Pflegschaft auf das Jugendamt zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung gemäß §§ 1666, 1666a Abs 2 BGB – strenger Prüfungsmaßstab – Grundrechtsschutz durch Verfahren – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Orientierungssatz
1a. Art 12 Abs 3 Verf BE garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Dieses „natürliche Recht“ ist den Eltern nicht vom Staate verliehen, sondern wird von diesem als vorgegebenes Recht anerkannt. Wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen, können die Eltern grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen entscheiden. Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben getroffenen Erziehungsentscheidung vielleicht vermieden werden könnten (vgl BVerfG, 29.01.2010, 1 BvR 374/09, NJW 2010, 2333 <2334>). (Rn.17)
1b. Da in der Beziehung zum Kind aber immer das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein muss, findet das Elternrecht dort seine Grenzen, wo eine Gefährdung dieses Wohls durch die Eltern droht (vgl VerfGH Berlin, 25.04.2006, 127/05 = FamRZ 2006, 1465 <1466>). (Rn.17)
1c. Die staatlichen Organe sind daher berechtigt und verpflichtet, die Eltern von der Pflege und Erziehung ganz oder teilweise auszuschließen, wenn es zur Abwehr einer nachhaltigen Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes erforderlich ist und diese Abwehr nicht auf andere Weise erreicht werden kann (vgl § 1666 BGB). Bei der Anwendung dieser Vorschrift, insbesondere bei der Auswahl der Mittel, haben die Gerichte dem verfassungsrechtlich verbürgten Elternrecht hinreichend Rechnung zu tragen und sich streng am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu orientieren. Art und Ausmaß des Eingriffs bestimmen sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss nach Möglichkeit versuchen, sein Ziel durch Maßnahmen zu erreichen, die helfend, unterstützend sowie auf Herstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtet sind (vgl VerfGH Berlin, 14.09.2010, 156/09, juris Rn 21f). (Rn.17)
2a. Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde besteht im Allgemeinen erst dann Anlass zu einer verfassungsgerichtlichen Korrektur, wenn das Fachgericht bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die Grundrechte in ihrem wesentlichen Gehalt verkannt hat (vgl VerfGH Berlin, 25.04.2006, 127/05 = FamRZ 2006, 1465). (Rn.17)
3b. Zu Ls: Bei gerichtlichen Sorgerechtsentzugsentscheidungen ist die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle auszuweiten und es sind auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht zu lassen (vgl BVerfG, 29.01.2010, 1 BvR 374/09, juris Rn 36 = FamRZ 2010, 713ff; st Rspr). (Rn.18)
4. Hier: Die Entscheidung des KG, der Beschwerdeführerin (Mutter) das Sorgerecht in Anwendung von §§ 1666, 1666a Abs 2 BGB zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung zu großen Teilen zu entziehen, ist auch nach diesem strengeren Prüfungsmaßstab verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. (Rn.19)
a. Zur Durchsetzung der materiellen Grundrechtspositionen muss Grundrechtsschutz durch das gerichtliche Verfahren gewährleistet sein, damit eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung – etwa durch Beiziehung eines Sachverständigen – erlangt wird (vgl BVerfG, 18.05.2009, 1 BvR 142/09, FamRZ 2009, 1389ff = juris Rn 21). (Rn.20)
b. Diese Voraussetzungen hat das KG vorliegend erfüllt, indem es seine Entscheidung auf der Grundlage eines umfassenden psychologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens, nach mehrmaliger – einzelner – Anhörung aller Beteiligten, vor allem der Kinder und der Beschwerdeführerin, sowie unter Einbeziehung zahlreicher weiterer Erkenntnisquellen getroffen hat. Es hat damit alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Sachverständige ihr Gutachten auf eine unzulängliche oder unzutreffende Tatsachengrundlage gestützt hätte oder ihre gutachterliche Einschätzung fachliche Mängel aufweist. (Rn.20)
c. Aus dem festgestellten Sachverhalt hat das KG in enger Anlehnung an die Ausführungen der Sachverständigen in verfassungsrechtlich nicht zu bean-standender Weise den Schluss gezogen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund narzisstischer Vereinnahmung und Manipulation der Kinder nicht in der Lage ist, wesentliche Teile der elterlichen Sorge zu deren Wohl auszuüben, und dass das seelische Wohl aller fünf Kinder ohne eine Einschränkung des Personensorgerechts der Mutter gefährdet wäre. (Rn.21)
d. Das KG hat bei der Auswahl der zur Abwendung der Gefahr für das Wohl der Kinder zu treffenden Maßnahmen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht verletzt. (Rn.23)
aa. Die im angefochtenen Beschluss angeordneten Maßnahmen (engmaschige Familienhilfe durch täglichen Einsatz psychologisch geschulter Familienhelfer einerseits und die Übertragung von Teilen der Personensorge für die fünf Kinder auf das Jugendamt andererseits) sind geeignet, die Gefahr einer seelischen Schädigung von den Kindern abzuwenden. – Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass eine vorrangig für die Pflegschaftsübernahme zuständige oder geeignete andere Person zur Verfügung gestanden hätte. (Rn.26)
bb. Die Einschaltung des Jugendamts ist auch nicht deshalb ungeeignet, weil die älteren Kinder Angst vor ihm haben und seine Intervention als repressiv wahrnehmen könnten. Als staatliche Institution, der die Wahrnehmung der Aufgaben der Jugendhilfe obliegt, ist das Jugendamt bereits deshalb für die Übernahme der der Beschwerdeführerin entzogenen Bereiche der Personensorge geeignet, weil es fachlich mit der Materie vertraut ist. (Rn.27)
cc. Im Verhältnis zur Beschwerdeführerin sind mildere als die vom KG angeordneten Mittel nicht ersichtlich, da nur auf die verfügte Weise die für die Kinder schädliche übermäßige Beeinflussung durch die Mutter reduziert und ihnen derjenige Freiraum sicher gewährt werden kann, den sie für ihre Persönlichkeitsentwicklung benötigen. (Rn.28)
dd. Der Eingriff in das Elternrecht durch die angeordneten Maßnahmen steht auch nicht außer Verhältnis zu dem Ziel, die Gefährdung des Wohls der Kinder abzuwehren. Durch diese wird eine räumliche Trennung der Kinder von der Mutter gezielt vermieden und ermöglicht der Beschwerdeführerin auch weitgehend ihre Erziehungsvorstellungen umzusetzen. (Rn.29)
Verfahrensgang …
Tenor
1. Das Verfahren wird, soweit es die Beschwerdeführer zu 2 und 3 betrifft, eingestellt.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
3. Der Antrag des Beteiligten zu 2 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
4. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
5. Auslagen werden nicht erstattet.