Seit den 1960er Jahren ist der Entwicklungspsychologie das Stufenmodell der Ich-Entwicklung Jane Loevingers bekannt. Dieses wurde ausgehend von empirischen Daten der Auswertung eines Satzergänzungstests erstellt, seitdem fortlaufend von ihr selbst und weiteren Forschern verbessert und zahlreichen Studien unterzogen, welche die Validität der Ergebnisse bestätigen. Grundidee von Loevingers Stufenmodell ist es,
einem Individuum auf Basis der Auswertung von 36 Satzergänzungen eine von 10 Entwicklungsstufen E1 bis E10 zuzuordnen. Verbunden mit diesen Entwicklungsstufen sind Eigenschaften wie Kritikfähigkeit, Fähigkeit zur Reflexion, Abhängigkeit von kollektiven Ansichten und viele weitere. In einem Wort beschrieben, geht es um die „Reife“ einer Persönlichkeit[1].
Name | Fokus | Rooke & Torbert (2005) | |
E1 | Präsozial | Körperfunktionen, Reflexe | 0% |
E2 | Impulsiv | Instinkt, Triebe | 0% |
E3 | Selbstschützend | Begierden und Ängste | 5% |
E4 | Konformistisch | Denken, Gefühle, Regeln und Normen der Gesellschaft | 12% |
E5 | Ich-Bewusst | Übergangsstufe – Zunehmend eigenständiges Denken und Werte | 38% |
E6 | Gewissenhaft | Vollständig eigenes Denken und Werte, nach außen getragen; Erfolge | 30% |
E7 | Individualistisch | Übergangsstufe – Weniger Bedürfnis, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen | 10% |
E8 | Autonom | Erfüllung, weniger Erfolg. Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen | 4% |
E9 | Integriert | Übergangsstufe – Werden und Vergehen, Lernen | 1% |
E10 | Fließend | Kein Fokus. Das, was ist. | 0% |
Eine Studie von Ken Vincent und Iliana Castillo überprüfte bereits 1984 Zusammenhänge zwischen Ich-Entwicklung und Persönlichkeitsstörungen und fand heraus, dass Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung auf der Stufe E3 zu verorten sind. Folgt man der Argumentation Otto Kernbergs, der die umfangreichsten und bedeutendsten Beiträge zum Verständnis von Borderline und Narzissmus beigetragen hat, sind auch Narzissten auf dieser Stufe anzusiedeln, allerdings wird dieser Umstand mit einem biederen Konformismus kaschiert, weswegen oberflächlich betrachtet eine auffällig starke Selbstverortung auf E4 zu erwarten ist, die aber so gezwungen erscheint, dass Zweifel daran bestehen müssen. In der Stichprobe von Vincent und Castillo gab es lediglich ein Individuum mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, aber bei diesem trat dieses Phänomen auch konkret so auf.
Das Stufenmodell der Ich-Entwicklung stellt eine Möglichkeit dar, einem Individuum einen grundsätzlich nicht-pathologischen Reifegrad zuzuordnen. Dennoch sind, empirisch betrachtet, Menschen auf einer frühen Ich-Entwicklungsstufe ungeeignet, Verantwortung für dritte zu übernehmen. Dies gilt für Führungsrollen in der Wirtschaft und Politik, für Partnerschaften, die Ehe und bei Sorgerechtsangelegenheiten. Erwachsene unterhalb von E5 verfügen über eine geringe persönliche Reife und wenig eigenständiges Denken. Unterhalb von E4 können wesentliche Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht mehr erfüllt werden, weil die Regeln, Normen und Gesetze, welche dieses konstituieren nicht als übergeordnet empfunden werden, sondern als akute Bewaffnung eines konkreten Gegenübers, welches das Selbst damit bedroht.
Bei pathologischen Narzissten geht diese Neigung so weit, dass sie im privaten, wie im professionellen Umfeld grundlegend gegen Vorschläge und Eingaben anderer sind, selbst wenn diese rein auf logischem Schlussfolgern oder faktischen Beobachtungen basieren. Der Narzisst versteht in solchen Momenten einzig und allein: „Jetzt ist gleich jemand anderes mehr wert und ich weniger. Das kann ich mir nicht gefallen lassen.“. Narzissten führen Punktekonten über ihr soziales Umfeld, auf denen sie verzeichnen, wer wieviel Lob und Anerkennung hat. Sollten dabei zu irgendeinem Zeitpunkt mehr Punkte auf einem anderen Konto als dem des Narzissten landen, ist mit Schmierkampagnen, Verleumdungen, falschen Strafanzeigen und dergleichen zu rechnen.
Die dritte Bewusstseinsstufe E3 ist das, was Abenteurer, wie Hermann von Wissmann oder Carl Peters bei ihren Forschungsreisen zur Kolonialisierung Ostafrikas zu sehen bekamen, wenn sie Eingeborene als Träger beauftragten und diese inmitten des Geleits die Gepäckstücke zu Boden warfen, mehr Lohn forderten und sich schimpfend auf den Boden setzten, wenn ihnen das nicht gewährt wurde. Die dritte Bewusstseinsstufe ist das, was überall lokale Führer antrieb, die bei der Durchreise durch ihr Gebiet Zölle einforderten. Sie ließen sich dabei gern mit bunten Glasperlen, Regenschirmen und Girlanden abspeisen, um sich damit dann pompös vor Ihren Untergebenen zu produzieren. Manchen von Ihnen gab man stattdessen Waffen, mit denen sie dann über die Nachbarstämme herfielen und deren Dörfer niederbrannten.
Die Reisetagebücher dieser Zeit sind voll mit Geschichten vom Aufstieg und Fall lokaler Stammesgesellschaften, ihren meist grausamen Führern und der sinnierenden Frage, warum dort nichts Dauerhaftes entstehen könne. Die Antwort ist so kurz, wie ernüchternd: Weil Menschen auf der dritten Bewusstseinsstufe keine Strukturen schaffen oder auch nur ertragen können. Sie leben ihre Musen aus, wo er entbrennt ihren Zorn und wer oder was dabei in Flammen aufgeht, ist nicht von Interesse. Narzissten sind im Kern genau, wie die beschriebenen Menschen. Mit dem Unterschied, dass sie gezwungen sind, ein Bewusstsein der 4. Stufe vorzutäuschen, weil unsere Welt das so verlangt.
Laut Plato ist der Mensch das animal rationale, also das mit Vernunft begabte Lebewesen. Diese Charakterisierung trifft auf Akteure auf und oberhalb der Entwicklungsstufe E4 auch zu, allerdings nicht darunter. Das Abwägen von Möglichkeiten hinsichtlich der Konsequenzen – womöglich noch für andere oder das Infragestellen der eigenen Motivation ist von der dritten Entwicklungsstufe, insbesondere Narzissten, keineswegs freiwillig zu erwarten. Gerechter und konsequenter Weise ist der Platz in der Gesellschaft, welcher der dritten Bewusstseinsstufe zusteht, eine Art Sonderschule durch deren Abschluss mindestens die vierte erreicht werden muss. Deren namentliche Mittel lauten: Disziplin, Gehorsam und notfalls körperlicher Zwang. Weil diese Menschen es anders nicht verstehen. Siehe dazu auch: Grundgesetz.
Loevingers Modell der Ich-Entwicklung weist Zusammenhänge mit Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung auf. Nach Kohlbergs Modell kann einem Individuum eine von sechs Stufen der Moralentwicklung, ausgehend von dessen begründeter Entscheidung angesichts eines moralischen Konflikts zugewiesen werden. Als Beispiel für einen solchen moralischen Konflikt benutzte Kohlberg häufig das sogenannte Heinz-Dilemma, wobei ein Mann namens Heinz seine sterbenskranke Frau retten möchte und der Apotheker der Stadt über ein Medikament verfügt, das Heinz sich aber nicht leisten kann. Nachdem er alles Geld, das er besorgen konnte, zum Apotheker gebracht, diesen aber dennoch nicht überzeugen konnte, das Medikament zu diesem geringeren Preis zu verkaufen, beschließt Heinz, das Medikament zu stehlen, um seine Frau zu retten. Folgende Tabelle erläutert die moralischen Entwicklungsstufen.
Postkonventionelle Moral | Stufe 6 Orientierung anhand universeller moralethischer Grundsätze „Wenn alle den Schutz von Eigentum wichtiger bewerten würden, als den Schutz von Menschenleben, würde die Gemeinschaft beides verlieren.“ |
Stufe 5 Orientierung anhand sozialer Normen und Verträge „Die Gemeinschaft hat ein Interesse am Überleben der Frau.“ | |
Konventionelle Moral | Stufe 4 Regelbasierte Orientierung „Ein Menschenleben retten ist wichtiger als der Schutz von Eigentum.“ |
Stufe 3 Orientierung nach Gut und Böse „Da er seine Frau offenbar liebt, sollte er es tun.“ | |
Präkonventionelle Moral | Stufe 2 Zweckmäßige Orientierung „Wenn seine Frau schön und nett ist, sollte er es tun.“ |
Stufe 1 Orientierung nach Gehorsamkeit und Strafe „Ob er es tun sollte, hängt von seinem Verhältnis mit Polizei und Justiz ab.“ |
John Snarey untersuchte 1986 Zusammenhänge von Loevingers und Kohlbergs Modell an 43 Bewohnern eines nord-israelischen Kibbutz und fand heraus, dass deren Ich-Entwicklung signifikant mit moralischer Entwicklung korrelierte (r=0.54, p<0.001). In seiner Studie zeigten sich folgende Zuordnungen von moralischer Entwicklung und Ich-Entwicklung.
3 | 3 – 4 | 4 | 4 – 5 | 5 | |
E4 | ~ 14% | ~ 57% | ~ 29% | ||
E5 | ~ 5% | ~ 36% | ~ 27% | ~ 31% | |
E6 | 20% | 50% | 30% | ||
E7 | ~ 16 % | ~ 33% | 50% | ||
E8 | 25% | 25% | 50% |
Es zeichnet sich erkennbar ab, dass eine Gesellschaft als Ganzes ein Interesse daran hat, dass die ihr angehörigen Individuen, insbesondere Entscheidungsträger eine möglichst hohe Ich-Entwicklungsstufe haben, da sie verbunden damit mehr Willens und fähig sind, die Interessen dieser Gesellschaft wahrzunehmen und diese bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Es wäre daher sinnvoll, bei der Übernahme von öffentlichen Ämtern, Sorgerechtsangelegenheiten und so weiter eine Ich-Entwicklungsstufe von mindestens E5, und selbstverständlich die Abwesenheit von gravierenden psychischen Beeinträchtigungen, wie pathologischem Narzissmus vorauszusetzen. Im Sinne des Letzteren wäre etwa Kernbergs strukturiertes Interview zur Feststellung der Persönlichkeitsorganisation abzunehmen. Dass solche Kriterien nicht existieren, wird gelegentlich mit dem sogenannten Demokratieprinzip begründet, welches seinerseits in Artikel 20 des Grundgesetzes begründet ist und wo geschrieben steht:
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Dabei wird in diesen Satz mithin eine Quotenpflicht hineininterpretiert, die nirgends zu finden ist und welche schon allein durch das Parteiprinzip verletzt wäre. Die Vorstellung, dass das Demokratieprinzip im Sinne des Artikel 20 von der Forderung verletzt wäre, dass Träger der Staatsgewalt im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein haben, zeichnet ein bedenkliches Bild der gegenwärtigen gesellschafts- und parteipolitischen Räson.